Ende der Toleranz

von  Dr. Wolfgang Schwarz
Veröffentlicht in der Nichtraucher-Zeitung 1/2003 

„Toleranz ist gut. Aber nicht gegenüber Intoleranten“. Wilhelm Busch schrieb diesen klugen Satz vor etwa 100 Jahren. Toleranz ist gut gegenüber Menschen, die anders aussehen, anders denken, andere Vorlieben haben oder in anderer Form anders sind als wir selbst. Toleranz soll anderen erlauben, ihre Bedürfnisse zu leben. Sie hört aber dort auf, wo manche sich rücksichtslos über die Bedürfnisse anderer hinwegsetzen. 

Die von Wilhelm Busch formulierte Maxime sollte heute keiner Diskussion mehr bedürfen. Doch die Auseinandersetzungen in Sachen Toleranz scheinen sich zu einer unendlichen Geschichte auszuweiten. Raucher fordern von Nichtrauchern Toleranz. Verlangen dagegen Nichtraucher Rücksichtnahme, so fühlen sich Raucher nur selten dazu verpflichtet. Recht und Gesetz stehen auf ihrer Seite, meinen sie. Erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist. Alles andere – so finden sie – ist Sache des guten Willens. Der Nichtraucher darf demutsvoll auf die Gnade des Rauchers hoffen, wenigstens während des Mittagessens verschont zu bleiben, eingeräuchert zu werden. Der Raucher entscheidet, wie sich die Situation gestaltet. Das hebt natürlich sein Selbstwertgefühl. Er kann den anderen zu Dankbarkeit herausfordern oder ihm eins auswischen. „Ich hab’s in der Hand. Ich bin stark!“ Ein schönes Gefühl, vor allem für solche mit angeschlagenem Selbstwertgefühl. 

Zum Glück nehmen immer weniger Nichtraucher die ihnen von den Rauchern zugeschriebene Rolle des demutsvollen Dulders an. Sie wehren sich. Mit Recht! Nichtraucher wie Raucher sehen das Recht auf ihrer Seite. Nichtraucher fühlen sich in ihrer Gesundheit und in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt und verweisen auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (Anm.d.Red.: Angegebene Paragraphen beziehen sich auf die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland). Dieses Recht wird durch Passivrauchen nachweislich verletzt. Raucher dagegen bestehen auf einem Gewohnheitsrecht, das von offizieller Seite bisher nie ernsthaft angefochten wurde. Zigaretten zu kaufen ist legal, sie zu rauchen demnach auch. Wen es stört, der hat Pech. Die Politiker in unserem Lande haben lange Zeit verbissen darum gerungen, die Rechtsunsicherheit in dieser Frage beizubehalten. Jeder Versuch, eine 
eindeutige Rechtslage zu schaffen, wurde von den Abgeordneten im Deutschen Bundestag bis zur Jahrtausendwende mehrheitlich abgelehnt. Mit der Novellierung der Arbeitsstättenverordnung haben wir nun endlich für einen wesentlichen Bereich des öffentlichen Lebens eine Rechtsgrundlage für den Nichtraucherschutz. Die Praxis wird zeigen, ob der Gesetzgeber damit ein Schutzschild oder lediglich ein Feigenblatt präsentieren wollte. Für ein Land, das sich konsequentes Verhalten im Umwelt- und Verbraucherschutz zugute hält, ist das Lavieren um den Nichtraucherschutz schon erstaunlich. So avancierten Nitrofen, Hormonpräparate und Antibiotika in Futtermitteln zum Skandal, während Nikotin und zahlreiche andere Schadstoffe im Tabakrauch das Gewissen der Verbraucherschützer nicht sonderlich rührten. Gegenüber schadstoffbelasteten Lebensmitteln gibt es keine Toleranz. Sie werden konsequent ausrangiert und vernichtet.  Andererseits wird dem betroffenen Bürger nahegelegt, der mit Schadstoffen aus dem Tabakrauch belasteten Atemluft mit Toleranz zu begegnen. Wie steht der Umweltschutz dazu? Welcher Logik folgt das politische Eingreifen? Ein Krebs auslösender Stoff wie Nitrofen in Lebensmitteln ist unakzeptabel, auch dann, wenn noch nicht nachgewiesen ist, ob die festgestellte Konzentration hoch genug ist, um eine Krankheit auslösen zu können. Im Tabakrauch sind etwa 50 Erbgut verändernde und Krebs erzeugende Stoffe enthalten. Nicht nur durch aktives Rauchen, sondern auch durch Passivrauchen können Karzinome (z.B. Lungenkrebs) entstehen. Das ist keine Vermutung, sondern durch zahlreiche Studien nachgewiesen. Der Handlungsbedarf ist also um ein Vielfaches höher als bei Nitrofen. Was geschieht also? Der neue § 3a der Arbeitsstättenverordnung fordert vom Arbeitgeber, die nichtrauchenden Beschäftigten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch zu schützen. Vermutlich erhebt sich daraus die Frage nach der zulässigen Dosis, nach der Konzentration also, die nicht überschritten werden darf. Bei Industrieabgasen lassen sich in der Regel Toleranzgrenzen festlegen und auch kontrollieren. Bei Tabakrauch ist weder das eine noch das andere möglich und sinnvoll. Tabakrauch ist eine Mischung aus mehr als 4.000 verschiedenen Stoffen. Es ist ausgeschlossen, für alle von ihnen Grenzwerte zu bestimmen, unterhalb derer eine biologische Schädigung unwahrscheinlich ist. Noch viel weniger ließe sich deren Einhaltung kontrollieren. Da sich für Tabakrauch objektiv keine Toleranzgrenzen festlegen lassen, kann es im Nichtraucherschutz auch keine Toleranz geben, etwa nach dem Motto: „Das bisschen Qualm – sei doch nicht so empfindlich!“. Mit der Formel „Wirksam ist der Nichtraucherschutz nur dann, wenn kein Tabakrauch zu riechen ist!“ haben die „Nichtraucher-Initiative Deutschland“ und der „Ärztliche Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit“ eine praktikable Definition gegeben. Sie ist unter normalen Gegebenheiten ausreichend, um im gesundheitlichen Interesse richtig zu entscheiden. Es gibt aber Fälle, in denen die Geruchsprobe nicht ausreicht, z.B. bei geruchlosen Schadstoffen. In klimatisierten Räumen mit hohem Umluftanteil kann die Atemluft durch wirksame Filter geruchsneutral gehalten werden, obwohl ein Teil der Schadstoffe aus dem Tabakrauch das Filtersystem passiert und in den Raum zurückgeführt wird. Diese können, obwohl sie nicht bewusst wahrgenommen werden, unerwünschte biologische Wirkungen haben. So wurden Fälle von Hypoxie (mangelnde Sauerstoffversorgung) mit Befindungsstörungen beobachtet, obwohl der Sauerstoffgehalt der Raumluft normal war. Ursache war eine unbewusste flache Atmung als Reaktion auf die nicht als Geruch wahrgenommene Luftverschmutzung. Tabakrauch ist die wichtigste und mit Abstand schädlichste Luftverschmutzung in Innenräumen. Da sich der Mensch vorwiegend innen aufhält, gehört Tabakrauch zu den wichtigsten Anliegen eines auf den Menschen bezogenen Umweltschutzes. An dieser Stelle aber beißt sich die Katze selbst in den Schwanz. Dieselbe Gewalt, die den Menschen vor Gift schützen soll, bringt dieses mit amtlichem Siegel selbst in Umlauf. In dieser Doppelrolle glaubwürdig zu sein ist wahrlich nicht leicht. Wenn Fremdverschulden im Spiel ist wie bei Schadstoffen in Lebensmitteln, dann ist konsequentes Vorgehen angesagt, aber bei Schadstoffen im Tabakrauch wird deren Verbreitung dank der üppigen Fütterung des Steuersäckels wohlwollend in Kauf genommen. 
Das Problem Schutz vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch wird von den Verantwortlichen mit spitzen Fingern recht differenziert aufgegriffen. Schutzwürdig ist, wer dem Gift gegen seinen Willen ausgesetzt ist. Über die Schutzwürdigkeit derer, die über noch keinen eigenen Willen verfügen, wie Kleinkinder, Säuglinge und Ungeborene im Mutterleib, herrscht bei offiziellen Stellen noch ziemliche Unklarheit oder zumindest die Tendenz, das Problem zu verdrängen. Wer sich selbst in Gefahr begibt, ob als Raucher oder als Nichtraucher in freiwilliger Gesellschaft mit Rauchern, der bewegt sich auf schutzfreiem Terrain. Dieses Gebiet wird von verschiedenen Kreisen gern als das Reich der Freiheit und Toleranz gepriesen. Es soll so scheinen, als ob kein allgemeines Interesse an einem umfassenden Schutz vor den Gefahren durch Tabakrauch besteht. Sollte ein solcher Schutz zwingend notwendig sein – so die Zweifler -, dann doch wohl für alle. Die Konsequenz wäre das Verbot eines derzeit noch frei verkäuflichen Produktes, das bei  bestimmungsgemäßem Ge- und Verbrauch so viele Todesopfer fordert wie kein zweites. Vor dieser Konsequenz schrecken die einen vom Geld, die anderen vom Gift berauscht zurück. Es bleibt also der kompromisslose Schutz all derer, die dem Tabakrauch unfreiwillig ausgesetzt sind. Niemand darf gezwungen werden, den Rauch anderer zu ertragen. Der Schutz von Arbeitnehmern ist ein ernster, längst notwendiger Schritt. 

Eine weitere unbedingt wichtige Zielgruppe sind unsere Kinder. Wünschenswert wäre es, sie in einer rauchfreien Umgebung aufwachsen zu lassen. Von diesem Ziel sind wir noch sehr weit entfernt. Gegenwärtig leben in Deutschland noch mehr als die Hälfte aller Kinder in einem Raucherhaushalt. Kinder sind durch Passivrauchen besonders gefährdet. Diese Erkenntnis wird ständig durch neue Untersuchungsergebnisse bestätigt. So auch durch eine Studie der HNO-Klinik Würzburg. Dr. Gerald Baier und Mitarbeiter fanden im Passivrauchen eine wesentliche Ursache für allergische Erkrankungen im Kindesalter wie z.B. Asthma. Sie entdeckten auch durch Passivrauchen verursachte Schäden an den Erbanlagen. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, später an Krebs zu erkranken. In welchem Ausmaß sich Schäden an den Erbanlagen auf folgende Generationen übertragen, lässt sich gegenwärtig noch nicht abschätzen. Angesichts solcher Erkenntnisse und Überlegungen wäre ein kompromissloser Schutz von Kindern vor Tabakrauch zwingend notwendig. Wie das in der Familie zu gewährleisten ist, bedarf noch intensiven Nachdenkens. Als erstes sollte das Gesäusel von der uneingeschränkten Toleranz gegenüber Rauchern ein Ende haben. Es gibt zwingende Gründe dafür, Rücksicht zu fordern und Toleranz zu verweigern. Elie Wiesel prägte dazu den treffenden Spruch: „Toleranz nützt nur dem Täter, nicht dem Opfer.“