Was Sie über Zigaretten nicht wissen

Von Marco Evers

In den Niederlanden sollen Tabakmanager vor Gericht gebracht werden. Der Tatvorwurf: Zigaretten seien so manipuliert, Jugendliche schnell süchtig zu machen. Was steckt dahinter?

Mit Totschlägern kennt sich Bénédicte Ficq aus. Seit Jahrzehnten sind sie ihr tägliches Geschäft. Die Strafrechtlerin, vielfach ausgezeichnet als die beste der Niederlande, hat Menschen verteidigt, die abscheuliche Verbrechen begangen haben. Noch nicht untergekommen sind ihr allerdings solche Schurken wie in ihrem wohl wichtigsten, spannendsten und größten Fall, mit dem sie jetzt Geschichte schreiben könnte.
Bénédicte Ficq, 60, hat namens einer an Lungenkrebs erkrankten Klientin bei der Amsterdamer Staatsanwaltschaft Strafanzeige erstattet. Sie will erzwingen, dass die niederländische Justiz ein weltweit einzigartiges Strafverfahren einleitet. Auf der Anklagebank sollen die Chefs der vier größten Tabakfirmen des Landes sitzen: Philip Morris International, British American Tobacco, Japan Tobacco International und Imperial Tobacco Benelux.
Folgende Verbrechen glaubt ihnen Bénédicte Ficq nachweisen zu können: schweren Betrug, schwere Körperverletzung mit Todesfolge, versuchten Totschlag – und Mord. „Man muss mit Worten vorsichtig sein“, sagt Ficq und setzt ihr feines „Ich krieg euch“-Juristenlächeln auf: „Ich bin mir aber ganz sicher: Wir haben eine wasserdichte Anzeige vorgelegt.“
Nie zuvor hat es ein Strafverfahren gegen die Tabakbranche gegeben. Zivilprozesse sind zu Dutzenden verhandelt worden, in denen Raucher oder, häufiger, ihre Hinterbliebenen Entschädigung für verlorene Lebensjahre verlangten. Vor allem in den USA sind den Klägern oft Millionen- und sogar Milliardensummen zugesprochen worden. Aber einen Strafprozess gegen einen legalen Industriezweig wie gegen eine Horde Giftmischer und gedungener Killer? „Bei vielen überwog am Anfang die Skepsis“, sagt Bénédicte Ficq. Jetzt nicht mehr.
In den Niederlanden ist ein einzigartiger Volksaufstand gegen die Tabakindustrie im Gang, der Vorbildcharakter für andere Länder haben könnte. Der Strafanzeige der prominenten Anwältin haben sich alle Universitätskliniken des Landes angeschlossen, eine Reihe privater Krankenhäuser, dazu das international bedeutsame Krebszentrum Antoni van Leeuwenhoek in Amsterdam. Mit von der Partie sind die Berufsverbände der Onkologen, der Gefäßchirurgen, der Hausärzte, der Gynäkologen, der Betriebsärzte, der Hebammen, der Krankenpfleger, der Kardiologen, der Psychiater, der Kinderärzte, der Zahnärzte, der Suchthelfer, das Äquivalent der Deutschen Krebshilfe sowie die Vereinigung der niederländischen Krebspatienten.
Selbst die Stadt Amsterdam ist der Anzeige jetzt formell beigetreten. Die Stadt Utrecht prüft diesen Schritt, Gleiches tut eine große Krankenversicherung. 54 Prozent der Bevölkerung, so eine Umfrage von Anfang Februar, wollen den Strafprozess für eine Branche, die mit ihren Produkten jährlich mehr als sieben Millionen Menschen weltweit tötet, 20.000 davon in den Niederlanden. „Es ist, als wären die Leute plötzlich wach geworden“, sagt Ficq.
Eine ähnliche Strafanzeige ist seit Mitte Januar in Paris bei der Staatsanwaltschaft anhängig. Weitere in anderen Ländern werden in diesem Augenblick vorbereitet – häufig nach niederländischem Vorbild. „Wenn deutsche Organisationen Interesse haben, dann sollen sie sich gern melden“, sagt Bénédicte Ficq. „Wir geben all unser Material kostenlos weiter.“
Der Aufstand fing klein an – und natürlich tragisch. Er begann mit Anne Marie van Veen, damals 41, aus Zwolle nahe dem Ijsselmeer. 2014 bekam die Mutter eines Teenagers und dreier kleiner Kinder die Diagnose: metastasierender Lungenkrebs, Endstadium, inoperabel; auch die Chemotherapie erwies sich rasch als zwecklos. Wo der Tumor herkam, war der jungen Frau sonnenklar: Sie hatte zu rauchen begonnen mit 15 Jahren. Und wie so viele war sie nicht mehr davon losgekommen.
Anne Marie van Veen lebt immer noch, dank einer neuartigen Immuntherapie. Täglich bekommt sie Morphium gegen die Schmerzen. Es geht ihr überraschend gut. Bis heute will sie kein Geld, keinen Schadensersatz; sie will mehr: Sie will erreichen, dass der Tabakindustrie das Handwerk gelegt wird. Wenn sie nicht mehr da sein wird, sollen ihre Kinder mit 14, 15 oder 16 Jahren nicht so leicht in die Fänge der Branche geraten wie sie selbst. „Das ist“, sagt ihre Anwältin, „ihr Vermächtnis.“
Aber ist Anne Marie van Veen nicht selbst schuld an ihrem Lungenkrebs? Niemand hat sie zum Rauchen gezwungen, und dass Zigaretten töten, steht auf jeder Packung drauf. Warum sucht sie nun die Schuld bei anderen?
Bénédicte Ficq ließ sich munitionieren von Wanda de Kanter, 58, einer Lungenfachärztin am Krebszentrum Antoni van Leeuwenhoek, die seit Jahren gegen die Tabakindustrie ins Feld zieht. „Menschen wissen sehr wenig über die Zigarette“, sagt Wanda de Kanter. Schon, dass sie bis zu zwei von drei ihrer langjährigen Nutzer umbringen könne, sei kaum bekannt. Und noch weniger, dass die Industrie ihr Produkt auf teuflische Weise manipuliere, um die suchterzeugende Wirkung auf maximale Weise zu verstärken.
Rund sieben Prozent des Tabaks einer Zigarette bestehen aus Zusatzstoffen: Zucker, Lakritz, Kakao; etwa 30 verschiedene Substanzen. Der Zucker macht das Inhalieren einfacher – allerdings entsteht bei seiner Verbrennung krebserzeugendes und suchtverstärkendes Acetaldehyd. Im Tabak sind auch Mittel enthalten, die helfen, die Bronchien zu weiten, damit der Rauch möglichst tief in die Lunge eindringen kann. Hustenstiller dämpfen den natürlichen Schutzreflex und machen so das Rauchen gerade für Jugendliche erst möglich. Ohne diese Substanzen würden Teenager vor lauter Husten kaum süchtig werden.
„Von drei Teenagern, die mit Zigaretten experimentieren, werden zwei zu täglichen Rauchern“, sagt Wanda de Kanter. Die Sucht setze oft schon nach zwei bis vier Wochen ein.
Ob jemand danach leicht aufhören kann, sei nicht so sehr von seinem Willen, sondern vor allem von seiner genetischen Veranlagung abhängig. Viele Kettenraucher hätten eine bestimmte Mutation auf Chromosom 15, die ihre Abhängigkeit besonders stark ausfallen lasse. Vor allem türkische Männer bildeten genetisch bedingt eine Enzymvariante, die das Nikotin sehr schnell abbaue. Die Folge: Wenn sie rauchen, dann rasch zwei Päckchen und mehr pro Tag; selbst nachts stehen sie auf, um sich Nikotin zuzuführen.
Dass Raucher ihre Zigaretten genießen würden, sei ein fataler Irrtum, sagt Wanda de Kanter. 80 Prozent wollten Studien zufolge aufhören, könnten aber nicht. Ein Raucher müsse rauchen, um den Nikotinspiegel in seinem Gehirn auf einem bestimmten Niveau zu halten. Fällt er darunter, fühle er sich gestresst und nervös. Erst die Zigarette bringt die Erlösung – und das, so sagt die Lungenfachärztin, sei der wichtigste Grund, weshalb Raucher Zigaretten als angenehm beschreiben.
In den Sechzigerjahren haben Wissenschaftler von Philip Morris („Marlboro“) entdeckt, wie hilfreich es ist, dem Tabak Ammoniak hinzuzufügen. Er sorgt dafür, dass mehr freies Nikotin im Rauch ist und innerhalb von sieben Sekunden ins Gehirn schießt. Je schneller das Nikotin ins Gehirn kommt, desto stärker wird die Sucht; und je stärker die Sucht, desto höher die Markentreue des Rauchers und die Profite der Hersteller. Das ist die tödliche Logik der Branche.
„Ich verstehe nicht“, sagt Wanda de Kanter, „warum wir so ein Produkt auf den Markt lassen.“
Die Zigarette, so heißt es in der Strafanzeige, „ist für den Zweck entworfen worden, Kinder und andere Anfänger möglichst schnell süchtig zu machen“. Das Geschäftsmodell der Branche gründe darauf, den freien Willen ihrer Kunden auszuschalten. Das wissentliche Herbeiführen einer oft tödlich verlaufenden Suchterkrankung sei mindestens als vorsätzliche Körperverletzung zu werten, argumentiert Bénédicte Ficq.
Die Anwältin hat noch mehr Trümpfe im Ärmel – zum Beispiel meint sie belegen zu können, dass Zigaretten in ihrer heutigen Form keineswegs ein legales Produkt sind.
Innerhalb der EU dürfen nur Zigaretten vertrieben werden, deren maximale Emissionen zehn Milligramm Teer, ein Milligramm Nikotin und zehn Milligramm Kohlenmonoxid nicht übersteigen. Prüfinstitute führen daher regelmäßig Labortests durch. Eine Rauchmaschine soll im Standardversuch ermitteln, wie viele Schadstoffe ein typischer Raucher aufnimmt.
Die Tabakindustrie hat diese Laborversuche laut Ficq auf ähnliche Weise manipuliert wie die deutsche Autoindustrie die Abgastests ihrer Dieselmotoren. In den Filtern fast aller Marken befinden sich kaum sichtbare Luftkanäle. Im Labor strömt neben dem Zigarettenrauch auch saubere Umgebungsluft durch die Filter hindurch in die Testmaschine. Der Qualm wird so verdünnt.
Ein menschlicher Raucher hingegen drückt viele Löcher zu – mit seinen Fingern oder seinen Lippen. Er nimmt deshalb in Wahrheit ein Vielfaches der zulässigen Schadstoffmenge auf – was er, anders als die Hersteller, aber nicht wissen kann. Die Schummelzigarette, auf niederländisch mittlerweile als „sjoemelsigaret“ ein berühmt-berüchtigter Alltagsbegriff, erfüllt für Bénédicte Ficq mindestens den Straftatbestand des schweren Betrugs.
Aber es kommt noch schlimmer: Manche Löcher in solchen Filtern bleiben auch in der Hand des Rauchers offen. Mit jedem Zug saugt er somit Umgebungsluft ein. Deswegen hat der Raucher den Eindruck, einen besonders milden Tabak zu verwenden. Die Branche bewarb solche Produkte lange als „Light“-Zigaretten – bis ihr das in der EU verboten wurde.
Der „Light“-Raucher ahnte nicht, was die Hersteller ebenfalls genau wussten: dass Raucher den Mangel an Nikotin kompensieren würden; sie inhalierten tiefer und öfter oder rauch­ten mehr Zigaretten pro Tag.
Das hatte Folgen. „Die Zahl der Lungenkrebsfälle pro Packung hat sich in den letzten Jahrzehnten erhöht“, sagt Wanda de Kanter. Gerade bei „Light“-Rauchern, die ja glaubten, eine schadstoffreduzierte Zigarette zu kaufen, liegt das Lungenkrebsrisiko heute sogar höher. Ein Grund dafür: Die Filterventilation hat die Verbrennungstemperatur im Tabak reduziert und somit mehr Teer entstehen lassen.
Bénédicte Ficq empfindet nichts als Abscheu vor den gewissenlosen Praktiken der Tabakmanager. „Ich stehe hinter dem Mordvorwurf“, sagt sie. Wenn ein Täter jemanden aus Habgier erschieße, sei der Fall klar. Wenn der Tod erst nach Jahrzehnten eintrete, die Tat aber vorsätzlich und im vollen Bewusstsein der Folgen ausgeführt werde, dann sei dies ebenso ein glasklarer Mord. „Ich wüsste nicht, warum die Täter keine Freiheitsstrafe bekommen sollten“, sagt die Juristin.
Die Strafanzeige hat Bénédicte Ficq schon vor anderthalb Jahren der Staatsanwaltschaft zugestellt. Seither hat diese in dem Fall ermittelt. Die Dauer der Ermittlungen deutet darauf hin, wie schwer der Behörde die Entscheidung gefallen ist. Am vorigen Donnerstag hat sie Bénédicte Ficq in Kenntnis gesetzt, die Sache nicht weiter zu verfolgen.
Es war der Bescheid, den die Anwältin erwartet hatte. Zu schwer wiegen in diesem Fall die möglichen Implikationen. Sollte die Tabakindustrie als kriminell verurteilt werden, dann würden sich daraus auch unübersehbare zivilrechtliche Ansprüche gegenüber dem niederländischen Staat ableiten lassen.
Für Bénédicte Ficq geht der Kampf damit erst richtig los. Die niederländische Strafprozessordnung sieht vor, dass sie den Fall in drei Monaten einem höheren Richter vorlegen kann. Dieser ist gehalten, bei seiner Entscheidung über einen etwaigen Prozess vor allem die gesellschaftliche Relevanz des Themas zu bedenken.
„Ich höre nicht auf“, sagt Bénédicte Ficq, „und wenn es zehn Jahre dauert. Der Geist ist aus der Flasche.“

DER SPIEGEL, 27.2.2018
(Nichtraucher-Zeitung 4/2018)